Gut-Brain-Axis

Die Ansicht, dass wir von unseren Genen bestimmt werden, ist nach wie vor weit verbreitet. Das trifft jedoch nur zu einem Prozentsatz im niedrig 2-stelligen Bereich zu. Um die Jahrtausendwende wurde die Epigenetik entdeckt, gewissermaßen eine durch Lebensumstände und Verhalten erwerbbare Vererbung. Die Vorstellung, wir müssen nur alle Gene kennen, um zu wissen, wie alles geht, war damit zum Teufel. Doch bevor die Epigenetik das Weltbild der Genetiker ablösen oder zumindest etwas abfedern konnte, begann nur wenige Jahre nach ihrer Entdeckung der übernächste und noch weit mächtigere Game-Changer am Horizont aufzuziehen: das Biom. Dass der menschlichen Körper nicht nur an seinen äußeren und inneren Oberflächen besiedelt ist, sondern auch in seinem Inneren und dass diese Bakterien (in ihrer Gesamtheit oder auch nur auf ein System des Körpers bezogen das „Biom“, z.B. das Darm-Biom genannt) auch symbiontisch oder zumindest notwendig sein können und nicht prinzipiell schädlich sind, war zwar schon länger klar, aber wie weit diese genetische Vielfalt den Körper mitregiert, ist bis heute eine große Unbekannte. Deren Dimensionen werden allmählich sichtbar. Das zu akzeptieren war einer medizinischen Experten- und Laienschauspielschar nach über einem Jahrhundert der erfolg- und segensreichen Antibiotika zunächst kaum möglich. Immerhin wurde eine schöne, klare Steuerung, nämlich die der Gene, zweimal schwerst getroffen und durch eine riesige Unbekannte ersetzt. Solange wir Menschen aber eine – wenn auch erwiesenermaßen falsche – Erklärung für Dinge haben, klammern wir daran, bis sie durch eine neue Theorie ersetzt werden kann. Wir können anscheinend nicht einfach gar keine Theorie haben. Und genau da stehen wir. Wir wissen, dass die Genetik nur einen kleinen Bruchteil erklärt, wissen aber nicht, wie die anderen Player das machen. Da bleiben wir doch lieber bei der Genetik.

Wenige Jahre nach der Jahrtausendwende stieß also die Erkenntnis, dass das Darmbiom das Gehirn beeinflusst, auf eine sehr gefestigte Ansicht über das Wie der Humanbiologie. Es brauchte über 10 Jahre, bis mehr Wissenschaftler begannen, zuzuhören. Gefördert wurde dieses Ignorieren noch durch eine jahrzehntelang antrainierte Denkungsart, die den Körper unausgesprochen als eine Art Modulbaukasten versteht, und darin auch keineswegs einen Widerspruch zu einer ganzheitlichen Medizin sieht. Komplementär-medizinische Konzepte wie traditionelle chinesische Medizin oder Osteopathie waren zwar inzwischen geduldet bis belächelt, aber nach wie vor kaum in der kassenbezahlten Medizin angekommen. In der Psychiatrie ist die Darm-Hirn-Achse therapeutisch bisher jedenfalls noch kein praktisches Thema. Folgerichtig begannen sich ideologisch und kommerz geprägte Parteien auf dieses unerforschte Gebiet zu stürzen und hatten eine große Unbekannte, mit der sich so gut wie alles erklären und damit verkaufen ließ. Allem voran das Biom des Darms – Nahrung und die ersten Erkenntnisse aus diesem Organsystem bietet wunderbare Möglichkeiten, alten Wein in neuen Schläuchen oder eben Wundermittel wie im Mittelalter zu verkaufen, die jeder einnehmen kann. 

Heute ist die Darm-Hirn-Achse, wie die Beeinflussung des Nervensystems durch die Bakterien in unserem Darm heißt, die beide je etwa 1,5 kg auf die Waage bringen, immerhin ein Hauptgebiet der Neurowissenschaft. Die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen dazu ist mittlerweile für einen Einzelnen nicht mehr zu bewältigen. … was den Hype weiter befeuert. Die allermeisten Studien leiden dabei unter dem alten Dilemma der Wissenschaft – sie zeigen vor allem Korrelationen, aber kaum kausale Beziehungen. Effekte sind aber keine Begründungen und das halten selbst Forscher oft nicht auseinander. Zunächst braucht es jedoch Fakten – und das ist bei der gigantischen Anzahl von Bakterien, die die Zahl der körpereigenen Zellen um ein Vielfaches übersteigt eine weit größere Mammutaufgaben als Genetik und Epigenetik zusammen. Gebraucht wird eine Art Landkarte von dem, was da ist, um Zusammenhänge zu erkennen. Und diese sind dann oft überraschend.

Wie könnte durch Darmbakterien ein Einfluss auf das Nervensystem hergestellt werden? Bevor das nicht klar ist, wissen wir schlicht nicht, was wir mit irgendwelchen Therapieansätzen kurz-, mittel oder gar langfristig bewirken. Zumindest wäre diese Kenntnis eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für einen kausale Ansatz. Eine geradezu ins Auge fallende Darm-Hirn-Verbindung, die erst neuerdings in Verbindung mit den Darmbakterien gebracht wird, ist der Vagus-Nerv. Das ist der 10. Hirnnerv, der seinen Namen daher hat, dass er quasi im Körper umher vagabundiert, also in fast allen innere Organen zu finden ist. Insbesondere im Darm. Nerven sind  – noch so eine überkommene Vorstellung, die schwer zu kippen ist – primär für den Transport von elektrischen Signalen zuständig. Sie können aber auch Substanzen transportieren. Zum Beispiel Stoffwechselprodukte von Bakterien. Die Hinweise verdichten sich, dass Bakterien auf diesem Wege zentralnervöse Erkrankungen verschlechtern können. Es gibt aber auch Bakterien, die die Situation verbessern. Das Paradebeispiel dafür ist ein Versuch mit einem Darmbakterium auf der Basis einer Entdeckung an Mäusen. Es produziert Vitamin B3 und der Vagusnerv bringt dieses direkt in das Gehirn, womit der Verlauf einer katastrophalen Erkrankung, die ALS (amyotrophe Lateralsklerose), verbessert wurde, während in der Kontrollgruppe alle Patienten die übliche Verschlechterung erlitten. Der Vagus-Nerv ist natürlich nicht das einzige Einfallstor ins zentrale Nervensystem. Der Riechnerv ist ebenfalls ein interessanter Kandidat. Aber nicht für den Darm. 

Und es geht noch weiter. So kann das Spektrum der autistischen Erkrankungen, mit dem auch ADHS assoziiert ist, transgenerational über Infektionen der Mutter weitergegeben werden. Achtung – das ist eine Korrelation. WIE das geht, wissen wir noch nicht, aber hier wirkt der nächste große Player im Körper mit: das Immunsystem. Vor der Infektion der Mutter selber ist das Kind geschützt, aber die Regulatoren (sog. Zytokine) wirken auch in ihm und eben auch in seinem sich entwickelnden Gehirn. Das heißt natürlich nicht, dass jede Infektion in der Schwangerschaft Störungen in der Entwicklung des Nervensystems des Kindes erzeugen kann. Es heißt vielmehr, dass über die Steuerung des Immunsystems, das zweifelsohne für die Kontrolle der Darmbakterien verantwortlich ist, auch andere Organe erreicht werden, ohne dass die Bakterien dahin kommen. Übrigens durchaus ein Corona-relevantes Thema. Denn dieses Virus beeinflusst wie kaum ein zweites gerade unser Immunsystem, weshalb hier derzeit nicht nur bei werdenden Müttern genau hingeschaut wird, wie das Potential für die Entwicklung von neuronalen Folgekrankheiten aussieht. 

Das sind also schon mal zwei Kandidaten, die eine kausale Verbindung vom Darm zum Gehirn aufzeigen können. Und es gibt Hinweise, dass Bakterien, die schon lange beim Menschen zu Gast sind, solche Wege sogar gezielt benutzen. Etwa wenn es um die Steuerung des Fettstoffwechsels geht. Grob gesagt sorgt das Biom bei Übergewicht über das Gehirn für noch mehr Nahrungszufuhr. Keinesfalls sind alle Verbindungswege mit den beiden genannten (Vagus und Zytokine) bekannt. Genauso wenig, wie wir schon von allen Bakterien das Darms wissen, womit ihre Anwesenheit korrelieren. Wir wissen nicht einmal sicher, was für eine gesunde Besiedelung im Darm gebraucht wird. Das Biom eines Ureinwohners eines von der Zivilsation unberührten Amazonasgebietes? Das Biom eines gesunden Kindes? Brauchen wir Lactobacillus reuteri, das bei Mäusen Autismus-Symptome zurückdreht? Immerhin können wir – anders als bei den Genen und weit mehr als beim Epigenom – beim Biom und insbesondere bei dem des Darms tatsächlich etwas tun, übrigens durchaus mit Einfluss auf das Epigenom. Das ist nun wirklich spannend. Und es ist sogar ein Weg, der jedem frei steht. Womit wir beim Thema einer gesunden Ernährung angekommen sind. Denn es ist vielleicht gar nicht im Detail notwendig, zu warten, bis die Einzelheiten der hier angerissenen Wechselwirkungen bekannt sind, wenn wir uns auf eine uralte Empirie stützen können. Statt Naturwissenschaft Erfahrungswissenschaft. Und wir reden hier nicht wie üblich von den Vitaminen und Ähnlichem. Welche Ernährung ist gesund für das Biom?

Autor: Prof. Dr. Timm Filler

Referenz: 2017 – Foster – Gut-Brain Axis Microbiome; 2021 – Willyard – How gut bacteria alter the brain

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