Unter dem Begriff „Spirituelle Medizin“ finden sich medizinisch-therapeutische Ansätze, die versuchen, spirituelle oder existenzielle Dimensionen des Menschseins in die Behandlung zu integrieren und Spiritualität als intrinsischen Aspekt des Menschseins anzuerkennen. Im Vordergrund stehen meistens Sinnfragen, Glaube, Hoffnung sowie das subjektive Erleben von Transzendenz als Ressourcen im Heilungsprozess. Transzendenz meint in diesem Zusammenhang, dass die Vorstellung von etwas „Größerem als das Ich“ – also z.B. ein Gefühl von Verbundenheit mit dem Leben, dem Kosmos oder einer übergeordneten oder göttlichen Instanz – Menschen in belastenden Situationen psychisch stabilisieren kann. Gesundheit ist also nicht nur ein körperlicher Zustand, sondern auch als geistig-seelisches und spirituelles Gleichgewicht zu begreifen. Dabei ist Spiritualität nicht zwingend religiös, sondern die individuelle Suche nach Sinn, Verbundenheit und innerer Orientierung. Spirituelle Medizin beschäftigt sich also mit der Rolle von Sinn und innerer Ausrichtung im Heilungsprozess. Während sie in größeren Teilen der Öffentlichkeit oft mit Hoffnung auf tiefgreifende Heilwirkungen oder als aus einer übergeordneten Instanz kommend verstanden wird, betrachtet die Wissenschaft solche Effekte überwiegend im psychosozialen bzw. neurobiologischen Kontext. Der medizinische Nutzen liegt bei dieser Betrachtung weniger in kausaler Heilung (ein Heilversprechen gibt es ohnehin in keiner Art der Medizin: § 3 HWG), sondern in der Unterstützung von Lebensqualität, Bewältigung des Krankheitserlebens und subjektivem Wohlbefinden.
Das Verständnis von Gesundheit hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Die alte Definition der WHO (Präambeltext der WHO-Verfassung vom 22. Juli 1946), wonach Gesundheit mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit ist, wird vollständiger ernst genommen. Gesundheit ist ein umfassender Zustand des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Nach unserer Erfahrung sucht eine wachsende Anzahl der Menschen den spirituellen Aspekt in dieser ganzheitlichen Medizin. Das Anwachsen entsprechender Angebote mag daran liegen, dass durch die Verfügbarkeit von Informationen zur Medizin in verschiedenen Kulturen und Epochen die Möglichkeit der Verbindung von Spiritualität mit Therapien in das Bewußtsein rückt. Die Denkstrukturen in der Bevölkerung wandeln sich teils schneller als bei vielen Anwendern der reinen Schulmedizin (das ist in diesem Kontext die universitäre Medizin, die weltweit als wissenschaftliche Medizin angesehen wird), weil letztere sich immer weiter und vor allem biomedizinisch spezialisiert und diversitfiziert hat, also immer kleinere Teilaspekte betrachtet. So wächst im gesellschaftlichen Diskurs die Sehnsucht nach einer Medizin, die auch innere Wandlungsprozesse, Sinnfragen und seelische Krisen berücksichtigt, kurz: eine bewußtseinsbasierte Medizin sucht.
Die nachfolgenden Unterpunkte liefern ein paar hoffentlich konstruktive Hinweise für eine Auseinandersetzung mit dem Thema. Diese Ausführungen sind dabei kein historischer oder philosophischer Abriss, fordern nicht die maximale Umsetzung von Dialog und Kooperation zwischen Medizinern, Seelsorgern, Psychologen, Sozialarbeitern, spirituellen Begleitern etc. (die mutmaßlich niemand leisten oder bezahlen kann) und bieten auch keine Fallbeispiele oder Empfehlungen. Stattdessen soll dieser Impuls dazu anregen, sich selbst zu befragen:
- Welche inneren Ressourcen stehen mir zur Verfügung, wenn gewohnte medizinische oder psychologische Ansätze nicht mehr ausreichen?
- Wo beginnt für mich echte Heilung – über die Ebene der Symptome hinaus?
„Health is a state of complete physical, mental, and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1946, inkraft getreten 1948)
Die vorstehenden Informationen verstehen sich als Informationsquelle, die eine Brücke zwischen schulmedizinischen und spirituellen Ansätzen schlägt. Spirituelle Medizin hat oft noch keine spezifisch naturwissenschaftlich belegte Heilwirkung. Wir betrachten Gesundheit als ein Gleichgewicht von Körper, Seele und Geist (Geist hierbei im goethianischen Sinne verstanden). Unser zentrales Anliegen ist die Aktivierung von Sinnquellen, um inneren Halt zu ermöglichen und Selbstheilungskräfte zu stärken. Denn das bloße Beseitigen von Symptomen ist keine Heilung.
Spiritualität enthält eine therapeutische innere Kraft durch Wert- und Sinnfindung. Im Unterschied dazu sucht Esoterik nach äußeren Kräften. Dass Spiritualität inzwischen auch in der integrativen schulmedizinischen Betreuung als Ressource zur Krankheitsbewältigung und zur Förderung subjektiven Wohlbefindens erkannt wird, ist Ausdruck eines Wandels – und kein vorübergehender Trend, sondern eine notwendige Anpassung unseres Gesundheitsverständnisses.
Auch wenn sich naturwissenschaftlich überprüfbare und nur begrenzt kausal erklärbare Perspektiven zunehmend begegnen, heißt das nicht, dass es da nicht „noch etwas anderes“ gibt. Derzeit wird Spiritualität noch meist utilitaristisch interpretiert – als psychosoziales Element zur Unterstützung medizinischer Therapien, nicht als deren Ersatz. Gleichzeitig bleiben damit individuelle, kaum erklärbare Phänomene – etwa spontane Remissionen – weiterhin ausgeklammert. Doch gerade diese Individualität ist ein zentrales Element ganzheitlicher Medizin und sollte nicht beschnitten werden, nur weil nicht alles in den geltenden Forschungsrahmen passt.
Eine grafische Übersicht finden Sie hier.
Quellen
[1] Mind-Body-Medizin, psychosoziale Effekte spiritueller Ressourcen:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8452578/
[2] Erwartungseffekte, Placebo und „predictive coding“ in der Neurowissenschaft:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9082982/
[3] Begrenzte Evidenz durch fehlende RCTs zur Wirkung von Spiritualität:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC1371827/
[4] Kritik an fehlender naturwissenschaftlicher Belegbarkeit:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8608766/
[5] Qualitative Studien zu spirituellen Gesprächen in der Betreuung:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10210081/
[6] Neurobiologische Korrelate spiritueller Praktiken (Gehirnaktivität):
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3957224/
[7] Serotonin, Dopamin & Stressverarbeitung bei spiritueller Praxis:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3190564/
[8] fMRT-Studien zur Meditation und Gebet:
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6519691/
[9] Selbstregulation durch spirituelle Praxis (Neurofeedback-Daten):
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC5442174/
[10] Heilung durch Verbundenheit: Spiritualität in der Medizin
https://theraklinik.de/die-therapien/heilung-durch-verbundenheit-spiritualitaet-in-der-medizin/
[11] Spirituelle Medizin – Facharztpraxis für Allgemeinmedizin
https://heidelberger-ganzheitsmedizin.de/medizin/informationsmedizin-spirituell.html
[12] Esoterik & Spiritualität
https://www.artist-ritual.de/esoterik-spiritualitaet
[13] Esoterik – Historisches Lexikon der Schweiz
https://de.wikipedia.org/wiki/Esoterik
[14] Esoterik, „Alternative Heilmethoden“ und Verschörungsideologien
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026988/
[15] Spirituelle Medizin – Ingrid Auer
https://www.ingridauer.com/spirituelle-medizin/
[16] Spirituelle Gesundheit: Symbolik und Bedeutung
https://www.wisdomlib.org/de/concept/spirituelle-gesundheit
[17] Esoterik, „Alternative Heilmethoden“ und Verschwörungsideologien
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/esoterik/4438